News vom 06.10.2022

Gestern feierte Ulrich Seidls neuster Film Sparta seine Deutschlandpremiere beim Filmfest in Hamburg. Sparta bildet den Schwesterfilm zu Seidls Werk Rimini; ursprünglich sollten beide Filme nur einen Film mit dem Titel Böse Spiele bilden. Sparta begleitet den pädophilen Judolehrer Ewald, der nach einer gescheiterten Beziehung einen Neuanfang in einem heruntergekommenen Landstrich in Rumänien anfängt. Dort erwirbt er ein verlassenes Schulgebäude, welches er mithilfe einiger Jungen aus der Umgebung in eine Festung umbaut, in der er den Kindern kostenlosen Judounterricht gibt. Die Schule („Sparta“) wird bald schon zu einem Paradies für die Jungen, die sonst ein tristes Leben in verarmten und zerrütteten Familien führen, in denen Gewalt und Alkoholismus an der Tagesordnung stehen. In diesem Milieu scheint Ewald der Einzige zu sein, der sich um die Kinder kümmert, und den es interessiert, wenn den Jungen familiäre Gewalt angetan wird.

Dieser positiven Darstellung des Protagonisten und seiner Beziehungen zu Kindern stehen Szenen gegenüber, in denen er die Kinder nur mit einer Unterhose bekleidet für sich posieren lässt, Fotos von ihnen macht oder ihnen körperlich sehr nahekommt. Zu strafbaren Handlungen oder Missbrauch durch Ewald kommt es in dem Film aber nicht, obwohl er durchaus in Situationen kommt, in denen er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Dennoch gab es mehrere ausgedehnte Szenen, in denen er die Bilder der Jungs auf einem großen Monitor betrachtet, und auf einzelne Körperregionen heranzoomt. Szenen, in denen die Stimmung im Saal sich merklich verdüsterte.

Die Rezeption des Films war grundsätzlich positiv, die Vorstellung wurde mit lautem Applaus vom Publikum gewürdigt. Im Anschluss beantwortete Seidl, der persönlich anwesend war, einige Fragen einer Moderatorin, die allerdings leider enttäuschend oberflächlich waren. So wurde das Thema Pädophilie nur indirekt in einem Nebensatz angeschnitten, und auch auf die Kontroversen, die den Film begleiten, wurde nur sehr kurz eingegangen. Dabei erzählte Seidl im Wesentlichen nichts, was er nicht schon in einem Interview ein paar Tage vorher geäußert hatte. Auch eine anschließende Fragerunde gab es nicht. Interessant war lediglich zu erfahren, dass Georg Friedrich, der Ewald in dem Film spielt, sich wohl ein Jahr auf seine Rolle vorbereitet und dabei auch mit einem pädophilen Menschen gesprochen habe, weiter wurde aber auf das Thema nicht eingegangen.

Zum Abschluss unsere Ersteindrücke zum Film in Kurzform.

Rubricappula

Ich fand viele Szenen in dem Film sehr unangenehm anzusehen, gerade auch in Anbetracht der Kontroverse um Seidl selbst, die er wohlgemerkt nicht gerade dadurch entkräftet hat, indem er sie bei seinem selbst beweihräucherndem Auftritt entschieden ausgeklammert hat. Die Fragen, die ihm gestellt wurden, waren alle sehr wohlwollend formuliert und ließen Kritik oder Zweifel keine Chance. Ausbeutung hat viele Gesichter und vielleicht ist es auch das, was der Film aussagen möchte - dann ist die Kontroverse meiner Meinung nach aber umso gerechtfertigter. Unter anderem die berüchtigte Szene mit dem Alkoholiker und die Frage, ob die Eltern der Kinder wirklich vollumfänglich eingeweiht waren und/oder sind, worum es in dem Film gehen soll. Hier vermischt sich das reale Leben dieser Kinder zu sehr mit Schauspiel, was vielleicht für erwachsene Darsteller in Ordnung sein mag, nicht aber für Kinder.

Im Film selbst sind mir vor allem Szenen, in denen Ewald sich den Jungen (meiner Ansicht nach) körperlich aufdrängt, indem er sie ungefragt streichelt, küsst oder sich an sie heran kuschelt, ohne, dass die Jungen selbst diese Art von Zuneigung (bei ihm) gesucht hätten, besonders unangenehm aufgefallen. Auch, wenn Ewald scheinbar (nicht ganz eindeutig, manche Szenen könnten als Andeutung interpretiert werden) keine sexuellen Übergriffe begeht, hatte ich überwiegend den Eindruck, Ewald sollte als „das geringere Übel“ in der Geschichte fungieren, nicht aber zwingend als Positivbeispiel eines Pädophilen. Für mich wurden die Szenen beim halb nackten Toben/Judo oder beim Duschen, teils auch unnötig in die Länge gezogen, ebenso wie die mehrfachen Szenen in denen er einfach nur die Fotos der Jungs anstarrt.

Die Geschichte um seinen Vater hätte für mich besser in einen anderen Film gepasst, dennoch empfand ich sie als ziemlich berührend.

Allgemein fehlte mir im Film die Gedankenperspektive der Charaktere, besonders die von Ewald, da vieles nicht durch die gezeigten Aufnahmen allein ersichtlich ist. Wie er z. B. sein Leben vor der Beziehung mit seiner Freundin verbracht hat, ist nicht bekannt, dadurch wirkt sein Coming-in ziemlich abrupt. Auch womit er genau innerlich hadert, wird nach einer Szene, in der er weinend zusammenbricht, nicht erläutert.

Allerdings gab es auch einige schöne Szenen, in denen es einfach natürlich wirkte, wie er mit den Jungen umging. Ich habe mich tatsächlich manchmal ein wenig ertappt gefühlt, zu sehen, wie dieser offensichtlich erwachsene Mann mit den Kindern zusammen aufblühte, Spaß hatte und es für alle Seiten für einen kurzen Moment keine Sorgen in ihrem Leben gab - diesen Aspekt der Pädophilie haben Seidl und auch der Darsteller Georg wirklich gut rüberbringen können.

Ich habe mir zum aktuellen Zeitpunkt noch kein abschließendes Urteil über den Film gebildet.

Sirius

Ich bin kein Freund der Cancel Culture und daher froh, dass der Film trotz aller Kontroversen gezeigt wurde und die Vorführung nicht abgesagt wurde, wie es mit der Weltpremiere in Toronto geschehen ist. Gleichzeitig hat es sich das Hamburger Filmfest aber auch ein wenig zu einfach gemacht. Ein Film kann nicht existieren, ohne dass er vorher produziert wurde. Das Endresultat von den Produktionsbedingungen zu trennen, ist dann doch ein wenig zu bequem. Frustrierend war auch, dass zum Thema Pädophilie nicht wirklich was erzählt wurde. Nur einmal redete die Moderatorin der Veranstaltung peinlich berührt von jemanden mit „solchen Neigungen“, fast so als hätte sie Angst, eine neue Kontroverse zu beschwören, wenn sie das P-Wort ausspricht.

Der Film selber ist durchaus interessant – man muss ja schon dankbar für jeden Film sein, der Pädophile nicht als monströse, psychopathische Bösewichter darstellt. Auch, wenn ich mir wünschen würde, dass Regisseuren mal was Kreativeres einfallen würde, um die pädophile Sexualität eines Charakters darzustellen, als ihn in einsamen, kalten Räumen minutenlang auf den nackten Oberkörper kleiner Jungs starren zu lassen. Dem Zuschauer wird so der (vermeintlich) pädophile Blick aufgezwungen, mit dem Ergebnis, dass er sich gruselt und ekelt. Durch die Beobachtung eines Voyeuristen wird er so selber zum Voyeuristen.

Als Gegenspieler zu Ewald dient vor allem der Vater eines Jungen, den Ewald ganz besonders zu mögen scheint (also den Jungen, nicht den Vater). Hier ist durchaus anzuerkennen, dass der Film keine einfache Schwarz-Weiß-Malerei betreibt. Ewald fügt den Kindern, im Gegensatz zu deren Vätern, kein Leid zu. Im Gegenteil, er bietet ihnen ein kindliches Paradies inmitten einer tristen Einöde, das sie so noch nie erleben konnten. Natürlich macht er dies zu einem großen Teil aus Eigennutz, weil ihm die Nähe zu Kindern Freude bereitet. Fakt ist aber, am Ende des Films ist der Einfluss, den Ewald auf die Kinder, mit denen er zu tun hatte, überwiegend positiv.

Das größte Manko des Films ist meiner Meinung nach: Zeit. Der Film ist einfach zu kurz. Vieles wird angedeutet, aber nicht zu Ende erzählt. Fast alle Charaktere außer Ewald und vielleicht noch seine Freundin (die aber nach der ersten halben Stunde keine Rolle mehr spielt) sind höchst eindimensional. Auch die Jungen (im ganzen Film ist übrigens kein einziges Mädchen zu sehen) haben recht eindimensionale Persönlichkeiten. Die Familien sind insgesamt wenig mehr als Klischees osteuropäischer Arbeiter. Verwahrlost, brutal, gewalttätig, alkoholisiert, asozial. Hier fehlten mir Nuancen, die dem Ganzen mehr Tiefe geben und damit auch den Konflikt zwischen Ewald, der stellenweise als mitteleuropäische „Retterfigur“ daherkommt, und den Einheimischen interessanter gemacht hätten. So wirkt auch der Klimax des Films sehr plötzlich und das Ende ein wenig abrupt.

Auch ich möchte keine abschließende Wertung abgeben, ohne den Film nicht mindestens ein zweites Mal gesehen zu haben. Auf jeden Fall lohnt es sich, ihn zu sehen, wenn man sich für das Thema Pädophilie interessiert. Sparta ist, wie ich finde, wesentlich erfolgreicher damit, einen pädophilen Charakter zu porträtieren, als Kopfplatzen – ein weiterer Film, der einen pädophilen Mann als Hauptcharakter hat. Paradoxerweise vielleicht gerade deswegen, weil Sparta im Kern kein Film über Pädophilie ist, sondern über Themen, mit denen wir uns alle irgendwie identifizieren können: Sehnsucht, Liebe, Einsamkeit, und die Suche nach einem Platz im Leben.